Das “Poème” op.25 von Ernest Chausson ist einer dieser Werke, die mich seit jeher in besonderer Art berührt hat. Virtuos, mysteriös und singend zugleich, handelt es sich hierbei um eine der wichtigsten Kompositionen, die die meisten Geiger ein wenig fürchten.

Ich habe das „Poème“ seit immerhin 12 Jahren nicht mehr gespielt, habe jedoch entschieden es mir wieder, für die Kammermusikkonzerte am Anfang des Frühjahres in Riga anzueignen. Anfang April werde ich dieses Werk mit Orchester spielen. Der ideale Augenblick um sich dieses etwas mystische „Poème“, sowie den eigentlich wenig bekannten Komponisten näher anzuschauen. 

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Ernest Chausson wurde am 20. Januar 1855 in Paris geboren.

Paris ist zu jenem Zeitpunkt im vollen Wandel, die Stadt vergrössert sich, modernisiert sich, es ist der Anfang der monumentalen Arbeiten des Präfekten Georges Eugène Haussmann. Er möchte aus Paris eine moderne und saubere Stadt machen (die letzte Cholera Epidemie hatte 1832 stattgefunden!), die Stadt selbst hatte keiner grösseren Veränderung seit dem Mittelalter erlebt, sie ist eng und ungesund. Gleichzeitig vernichtet Haussmann die revolutionären Brennpunkte: zwei weitere Revolutionen hatten seit der von 1798 stattgefunden, eine 1830, die zweite 1848. Haussmann vernichtet die Kriesenherde “weil es auch viel schwieriger für die Arbeiterklasse sein wird einen weiteren Auftstand einzuleiten, wenn dann mal alle in den neuen Vierteln verstreut sein werden“.

Diese Kampagne wurde „Verschönertes Paris, vergrössertes Paris, gesäubertes Paris“ genannt. Paris verwandelt sich, und kleidet sich in ihr schönstes Lichterkleid ein.

Ernest Chausson kommt aus einer gutbürgerlichen, mittelständischen Familie, ursprünglich Maurer, Schreiner und Bauunternehmer in öffentlichen Arbeiten, die an ihren Wohlstand gerade durch die Vergrößerung und Modernisierung von von Paris gelangt waren. Ernest Chausson wurde übrigens 12, rue Pierre-Chausson geboren, eine kleine Strasse die den Namen seines Grossvaters väterlicherseits trägt, da dieser viele Grundstücke nahe der Porte Saint Martin besass (10. Arrondissement von Paris).

Ernest Chausson’s Lebensverlauf war im Anschein schon geschrieben worden: seine zwei älteren Brüder sind sehr jung verstorben, Ernest wächst in der Einsamkeit eines Goldenen Käfigs auf. Seine Familie sieht für ihn eine Karriere als Anwalt vor. Ernest fügt sich zunächst, und wird 1877 Anwalts-Praktikant. Jedoch ist er seit 1875 regelmässiger Gast in den Salons von Madame Berthe de Rayssac, wo er sich für die Kunst begeistert, insbesondere Literatur, Musik, Malerei, und Poesie: all das wird ihn an einem Wendepunkt in seinem Leben bringen.

Der gutbürgerliche Reichtum seiner Familie erlaubt ihn, sich voll und ganz der Musik zu widmen. Während er 1878 seine ersten Kompositionen veröffentlicht, möchte er seine Kompositionskenntnisse in der Klasse von Jules Massenet verbessern, zunächst einmal als Zuhörer, dann aber ab 1880, in dessen Klasse am Pariser Konservatoriums.

Ernest Chausson von Henry James

Während seiner Sommerferien in Bayern, lernt er 1878 auch Vincent d’Indy kennen (der berühmte Französische Komponist, der auch einer der Gründer der Pariser Schola Cantorum war). Er wird mit ihm eine sehr enge Freundschaft schliessen. Vincent d’Indy wird übrigens auch Ernest Chaussons’s Quartett op.35 vervollständigen, damit dieser posthum veröffentlicht werden kann.

Chausson vervollständigt sein Studium 1881 unter der Leitung von César Franck, und wird sogar den Prix de Rome auf Rat von Jules Massenet vorbereiten, an dem er jedoch kläglich scheitert.

Er nimmt dann an der Gründung der ”Union des Jeunes Compositeurs” teil, eine Initiative die aber nicht lange durchhält, deswegen schliesst er sich rasch der “Société Nationale de Musique” (SNM) an, von den besten Französischen Komponisten seiner Zeit zusammengestellt ist, wie z.B. César Franck, Camille Saint-Saëns, Ernest Guiraud, Jules Massenet, Jules Garcin, Gabriel Fauré, Alexis de Castillon, Henri Duparc, Paul Lacombe, Théodore Dubois, et Paul Taffanel.

Ernest Chausson heiratet 1883 Anne Escudier, und gelangt durch seine angeheiratete Verwandtschaft noch mehr in das Pariser Musikleben seiner Zeit. Er engagiert sich nicht nur künstlerisch, sondern auch finanziell ein, unter Anderen mit d’Indy, Husson, und Duparc in den “Concerts Populaires” von Jean Pasdeloup (Gründer des homonymen Pariser Orchester).

Als Chausson als Sekretär der SNM berufen wird, setzt er sich mehr denn je mit Geist un Seele ein, besonders durch seine finanzielle Beteiligung. Er lädt zu sich, in seinem eleganten Hôtel particulier, 22 Boulevard de Courcelles, zahlreiche der berühmtesten Künstler seiner Zeit, wie Paul Dukas oder Claude Debussy, sowie den Maler Eugène Carrière ein.

Im musikalischen Salon von Ernest Chausson, 22 Boulevard de Courcelles. Man kann klar Claude Debussy unterscheiden.

Trotz einer glücklichen Ehe und eines vollendeten Familienlebens (er hatte 5 Kinder mit seiner geliebten Ehefrau gehabt) bleibt Ernest Chausson sehr geheimnisvoll: man wird von ihm sagen, er leide unter starker Depression. Als er, vom Fahrrad stürzend, im Juni 1899 in Linay stirbt, wird man sogar die Hypothese des Selbstmordes in Betracht ziehen. Er ist im wundervollen Cimetière du Père Lachaise beigesetzt worden.

Ernest Chausson adorait le vélo.

Ernest Chausson stirbt nur 44 Jahre alt, und hinterlässt eine recht bescheidene Anzahl von Werken: 39 Kompositionen mit Opus-Ziffern, 24 Kompositionen ohne Opus-Ziffern.

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Chausson komponiert sein „Poème“ op. 25 im Jahre 1896. Der berühmte Belgische Geiger Eugène Ysaÿe wird dieses Werk uraufführen, er selbst hatte zwei Monate zuvor dem Poème, am 6. November 1896 eine erste Lektüre gegeben, in Cap Ferrât, nahe Nizza, im Haus des Katalanischen Maler Santiago Rusiñol, wo ihn der Geiger Mathieu Crickboom eingeladen hatte. Wenn man sich die Violin-Partitur näher anschaut, kann man sich leicht vorstellen, dass Ysaÿe Chausson beraten haben muss, sowohl auf technischer Ebene, sowie auch was den Möglichkeiten der Klangfarben auf der Violine angeht.

Eugèbe Ysaÿe, der berühmte Belgische Geiger, der der Komposition des Poème beigetragen hat, und dieses Werk auch Uraufgeführt hat.

Als Claude Debussy das erste Mal das “Poème” im Konzert hört, schätzt er das dieses Werk “ die allerschönsten Eigenschaften besitzt. Die Freiheit der Form widersetzt sich niemals den harmonischen Verhältnisse. Nichts ist berührender als die träumende Süsse des Ende des „Poème“, wenn die Musik jegliche Beschreibung oder Anekdote hinter sich lässt, und somit zum Gefühl selbst wird, die von der Emotion inspiriert wurde.
Das “Poème” von Ernest Chausson wird somit, unter der Autorität von Claude Debussy, ein Beispiel der Überlegenheit dieser „reinen Musik“ über der „anderen“, die als „Kompromiss“ beschuldigt wird.

Claude Debussy, grand ami d’Ernest Chausson

Und Claude Debussy fährt in seiner Analyse fort: er fechtet an, dass es sich im “Poème”, am Ende, um eine „Beschreibung oder Anekdote“ handelt. Das würde aber Bedeuten, dass dieses Werk zuvor einer „Beschreibung“ von etwas Bestimmten unterlegen war, und das Claude Debussy etwas davon wusste.

Tatsächlich kommt erst um 1960 eine wichtige Tatsache zu Tage, als man das Manuskript des “Poème”, in dessen Klavierzusammenfassung wiederfindet. Man kann nämlich dort ein Indiz finden: unter dem Titel stehen die Worte “Le Chant de l’Amour Triomphant” („Das Lied der triumphierenden Liebe“),  das, wie man weiss, der Titel einer Kurzgeschichte Iwan Turgenjew.

Ernest Chausson war ein grosser Liebhaber von Iwan Turgenjew: er besass dessen vollständige Werke in seiner persönlichen Bibliothek. Man weiss auch wie sehr Turgenjew mit dem Pariser Musikleben verbunden war. Für mehrere Jahre mit der Sängerin Pauline Viardot liiert (sie war die Inspiration für Georges Sand’s „Consuelo“ gewesen), hat Pauline sämtliche Werke Turgenjew’s ins Französische übersetzt.

Ernest Chausson hätte also das “Poème” komponiert, nachdem er diese Erzählung, „Das Lied der triumphierenden Liebe“ (Песнь торжествующей любви) geschrieben 1881, gelesen hätte.

Die etwas mystische Erzählung könnte folgendermassen zusammengefasst werden:

Muzio und Fabio, zwei Brüder und Künstler aus Ferrara, verlieben sich beide in die wunderschöne und bezaubernde Valeria. Als es an der Zeit ist, sich zu vermählen, wählt Valerie Fabio aus.

Muzio reist in den Orient um seine Liebe zu vergessen, und kehrt fünf Jahre später wieder Heim. Er hat sich die dortigen Sitten zur Gewohnheit gemacht. Er gibt Anfangs das Gefühl tatsächlich seine alte Liebe zu Valeria vergessen zu haben, beeindruckt sie jedoch stark indem er ihr eine wundervolle Melodie auf seiner orientalischen Geige spielt. Gleichzeitig magisch angezogen und trotzdem unwohl, wird Fabio von ihrem Benehmen krank aus Eifersucht. Er ersticht Muzio mit einem Dolch, aber sein Malaysischer Diener bringt Muzio zum Leben zurück, um ihn in eine bessere Welt zu bringen. Valeria, die sich von dem merkwürdigen Zauber befreit denkt den sie seit Muzio’s Rückkehr über sich fühlte, begreift, dass in ihrem Bauch ein neues Leben entsteht….

Der junge Iwan Turgenjew

Wenn man einmal die Erzählung kennt, könnte man eigentlich versuchen, eine direkte Verbindung zwischen jeder Passage des “Poème”  und dieser Erzählung zu finden. Zum Beispiel wäre es denkbar damit die erste Idee des “Poème” zu erklären, mit ihrer langen Melodie – eine der schönsten romantischen Phrasen die jemals komponiert wurden – von der unbegleiteten Violine vorgestellt, von den tiefsten Tönen kommend, genau wie im Text der Erzählung.

Vielleicht ist dies doch nicht so einfach: wollte Chausson eine exakte, Wort-zu-Wort Übertragung? Oder war es doch diese Melodie die ihn verführt hat, und der er dann, durch seine Phantasie, freie Bahn gegeben hat? Hätte vielleicht Chausson uns einfach Glauben lassen wollen, dass er dieser Kurzgeschichte folgte, und uns damit auf eine falsche Spur bringen wollte? War er ja nicht einsam und depressiv?

Daudet, Flaubert, Zola und Touguenjev in einem typischen, damaligen Salon.

Chausson hat immerhin selbst den Titel der Erzählung Turgenjew’s durchgestrichen, und damit seinen Interpreten ein wichtiges Indiz verschwiegen – oder wollte er durch seiner Vorgehensweise uns etwas wichtiges, persönliches verschweigen? Man versteht auch viel besser was Debussy’s Satz bedeutet, nunmehr viel richtiger und eindringlich als es Anfänglich erscheinen mag.

Auf jeden Fall hat damit Chausson, unter dem Einfluss des Russischen Schriftsteller, eine vollkommen neue Form der Komposition für Violine erfunden, die viel weiter als das Symphonische Poem reicht.

Wie alle Werke die wir uns heute als Interpreten vornehmen, ist es immer eine riesige Schatzsuche, in der man Realität, Gesellschafts- und Sozial-Geschichte, Literatur, Malerei und nicht zuletzt, damaligen Alltag verbinden muss. Es ist dann an dem Musiker daraus etwas ganz besonderes zu machen, und somit das Publikum auf eine grosse Reise einzuladen.

Das “Poème” ist das Spiegelbild des wunderbaren Paris des letzten Jahrhunderts. Es trägt in seinen Musiknoten die Inspiration der weit enfernten Reisen, wie eine Weltausstellung. Eine Momentaufnahme seiner Zeit, seiner Welt, wie wir sie uns heute nur vorstellen können.

Première page manuscrite de la „Tempête“ d’Ernest Chausson

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